Podcast | Die Sache mit der Achtsamkeit: Kritikpunkte und Stressfallen
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Achtsamkeit ist ein mächtiges Werkzeug auf dem Weg zu einem bewussteren und erfüllteren Leben - das haben die meisten von uns inzwischen begriffen. Doch wie jede Methode, die unser Wohlbefinden fördern soll, hat auch die Achtsamkeitspraxis ihre Fans und Nicht-Fans und ist nicht frei von Kritik.
In diesem Blog und in meiner Arbeit im Allgemeinen spielt Achtsamkeit eine zentrale Rolle, doch noch nie habe ich die schwierigen Seiten und die Kritik an ihr thematisiert. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Und das ist auch gut so. Denn kritisches Hinterfragen gehört zum achtsamen Leben dazu - es geht gar nicht anders.
In diesem Artikel möchte ich auf die Aspekte eingehen, die oft als negative Seiten der Achtsamkeit heftig kritisiert werden. Durch meine eigene Linse möchte ich ihnen etwas von ihrer Schärfe nehmen. Ich möchte alternative Wege und Impulse aufzeigen, die vielleicht auch den strengsten Achtsamkeitskritiker*innen Stoff zum Nachdenken geben können.
Achtsamkeit als Lebensweise, nicht als zusätzliche Belastung
Ein oft übersehener Aspekt der Achtsamkeit ist, dass sie nicht nur eine weitere "Technik" oder ein weiteres Ritual ist, das wir in unseren ohnehin schon vollen Alltag integrieren sollten. Viele Menschen nehmen sich vor, „achtsamer“ zu sein, und fügen dies ihrer To-do-Liste hinzu, oft als eine weitere Methode der Selbstoptimierung.
Doch genau hier liegt das Problem: Achtsamkeit soll uns nicht zusätzlich belasten, sondern uns helfen, die Dinge klarer zu sehen.
Achtsamkeit wird dem Leben nicht übergestülpt.
Meiner Ansicht nach schafft Achtsamkeit Raum, um zu atmen und mit sich selbst in Kontakt zu kommen.
Sie ist vielmehr eine Art zu (er)leben, eine Perspektive, die es ermöglicht, innezuhalten, zu erkennen, was zu viel ist, was stresst, und wie das reduziert oder verändert werden kann.
Es geht nicht nur darum, Achtsamkeitstechniken anzuwenden, um Stress zu bewältigen, sondern Achtsamkeit hilft uns, überhaupt zu erkennen, woher der Stress kommt, um ihn zu minimieren.
Dasselbe höre ich, wenn es um Digital Detox geht.
Digital Detox ist nicht dazu da, alles Digitale zu verteufeln. Es geht darum, aus einer sicheren, ruhigen, distanzierten Vogelperspektive zu erkennen, wer man ohne den digitalen Zirkus überhaupt ist und die eigene Stimme wieder zu hören. Was ist einfach zu viel? Was stresst nur, aber auch: Was hilft mir im Alltag? Was verbindet mich mehr mit der Welt und den Menschen in meinem Leben? Um dann zu entscheiden, was bleiben darf und was gehen muss - von Apps, Verhaltensweisen, Marketingaktivitäten etc.
Meine Empfehlungen und Impulse
Stressquellen erkennen
In stressigen Momenten kann es hilfreich sein, kurz innezuhalten und sich bewusst zu fragen: „Was verursacht diesen Stress? Ist das, was ich gerade tue, wirklich notwendig?“ Diese achtsame Reflexion bietet die Möglichkeit, Prioritäten klarer zu erkennen.
Reduzieren statt addieren
Achtsamkeit ermöglicht es, die Notwendigkeit vieler Aufgaben zu hinterfragen. Es wird deutlicher, welche Tätigkeiten uns wirklich weiterbringen – privat, beruflich oder in der Selbstständigkeit. Vielleicht zeigt sich, dass einige Aufgaben gestrichen, delegiert oder seltener erledigt werden können.
Grenzen setzen
Durch Achtsamkeit entsteht ein besseres Bewusstsein dafür, wann ein „Zuviel“ erreicht ist. Dieses Bewusstsein hilft, Grenzen klarer zu erkennen und sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich zu wahren.
2. Aneignung einer fremden Kultur
Einer der häufigsten Kritikpunkte an der Achtsamkeitsbewegung ist die Sorge vor kultureller Aneignung. Kulturelle Aneignung findet statt, wenn Traditionen und Symbole marginalisierter Kulturen von dominanten Kulturen übernommen und aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen werden.
Beispiele sind Yoga, das im Westen häufig als Fitness vermarktet wird, indigene Kleidungsstücke wie Federschmuck, der als Modeaccessoire verwendet wird, oder der Bindi, das im Hinduismus spirituell verankert ist, aber als „exotisches“ Accessoire auf Festivals dient. Auch Dreadlocks, Cornrows, Hip-Hop, Reggae und Feste wie Dia de los Muertos werden oft ihrer kulturellen Bedeutung beraubt und kommerzialisiert. Kritisiert wird, dass die Ursprünge ignoriert und die Machtverhältnisse zwischen den Kulturen nicht beachtet werden.
Achtsamkeit und Meditation haben ihre Wurzeln in fernöstlichen Traditionen, insbesondere im Buddhismus. Die "Verwestlichung" dieser Praktiken - ihre Herauslösung aus dem religiösen Kontext und ihre Kommerzialisierung - wird von vielen als kulturelle Aneignung betrachtet. Diese Kritik hebt hervor, wie westliche Gesellschaften Elemente übernehmen, ohne deren tiefere Bedeutung oder kulturelle Nuancen zu respektieren.
Bildung und Respekt
Wann immer ich etwas aus einer anderen Kultur in mein Leben integriere, versuche ich, es in den richtigen Kontext zu stellen. Das bedeutet, die Kultur, die Sprache und die Menschen zu würdigen, die diese Praktiken weitergegeben haben - ob es sich nun um Yoga, Hip-Hop, Chopsticks oder Kimonos handelt - und mehr darüber zu erfahren. In den meisten Fällen bin ich mir auch bewusst, dass ich mir etwas aus einer anderen Kultur „ausleihe“ und es an meine Gegenwart anpasse.
Was die Achtsamkeit betrifft, so habe ich das meiste, was ich darüber weiß, in entsprechenden Kursen und Ausbildungen gelernt - mit besonderem Augenmerk darauf, die Ursprünge der Techniken und Philosophien zu verstehen.
Auch mein Selbststudium war geprägt von der Auseinandersetzung mit den Wurzeln der Achtsamkeit und ihrer Entwicklung in der westlichen Welt. Bücher wie „Mindfulness in Plain English“ von Bhante Henepola Gunaratana, „Das Wunder der Achtsamkeit“ von Thich Nhat Hanh oder „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ von Eckhart Tolle haben mir zu einem tieferen Verständnis der Praxis verholfen. Eine Liste mit weiteren Buchempfehlungen zum Thema Achtsamkeit findest du am Ende des Artikels.
Die Wurzeln ehren
Während eines Achtsamkeitsrituals kann es hilfreich sein, darüber nachzudenken und sich zu fragen, ob die Praxis in ihrem ursprünglichen Kontext verstanden und auf authentische und respektvolle Weise angewendet wird.
Wenn die Praxis an die eigenen Bedürfnisse angepasst wird, kann dies bewusst geschehen, im Wissen, dass eine Veränderung stattfindet. Die Achtsamkeitspraxis kann dann auch ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber den Menschen sein, die sie vor Hunderten oder Tausenden von Jahren ins Leben gerufen haben. Ein kurzer Satz der Dankbarkeit zu Beginn oder am Ende der Praxis genügt, um die Wurzeln der Praxis zu ehren und die Erinnerung und den Respekt lebendig zu halten.
Ein kleines Beispiel dafür ist, dass in vielen amerikanischen oder australischen Podcasts und Websites die indigenen Völker, auf deren Land die Hosts und Unternehmenden leben, oft erwähnt werden - eine Geste des Respekts und der Anerkennung.
3. Flucht vor der Welt aka Spiritual Bypassing
Ein weiterer häufiger Kritikpunkt ist, dass Achtsamkeit manchmal als eine Art „Flucht“ missverstanden wird - eine Möglichkeit, sich in eine „Blase“ des inneren Friedens und der Selbstfürsorge zurückzuziehen und die Probleme der Welt auszublenden.
Kritiker*innen argumentieren, dass dies zu einer Art spirituellem Materialismus führen kann, in dem die Praxis hauptsächlich dazu dient, sich von sozialen und politischen Realitäten zu distanzieren, und in dem Achtsamkeit nur zur Selbstfürsorge genutzt wird, anstatt ein Werkzeug für Empathie und soziales Engagement zu sein.
Oft wird in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf erhoben, Achtsamkeit sei egoistisch - ein "Egotrip", bei dem es nur um das eigene Wohl gehe. Diese Kritik verkennt jedoch das eigentliche Potenzial von Achtsamkeit. Richtig verstanden geht es nicht um den Rückzug ins Ich, sondern um die Kultivierung von Selbstmitgefühl, das sich auf andere überträgt. Wer gut mit sich umgeht, kann dies auch authentischer und einfühlsamer mit anderen tun.
In engem Zusammenhang mit dieser Kritik steht das Phänomen des Spiritual Bypassing, ein Begriff, den der Psychologe John Welwood bereits 1984 geprägt hat.
Spiritual Bypassing beschreibt die Tendenz, spirituelle Praktiken - wie Achtsamkeit oder Meditation - zu nutzen, um sich von emotionalen oder psychologischen Problemen abzulenken (sie zu umgehen), anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dabei werden spirituelle Konzepte wie „Gelassenheit“ oder „innerer Frieden“ verwendet, um Konflikte oder unangenehme Gefühle zu vermeiden. Dies kann zu einer oberflächlichen Spiritualität führen, die sich den wirklichen Herausforderungen des Lebens nicht stellt, sondern ihnen ausweicht.
Eng damit verbunden ist ein häufiger Vorwurf an achtsame Menschen, sie seien unpolitisch und würden sich nicht genügend für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen.
Diese Kritik verkennt meines Erachtens jedoch das eigentliche Potenzial und die Bedeutung von Achtsamkeit:
Denn die Praxis der Achtsamkeit ermöglicht es uns umso mehr, ein tieferes Bewusstsein für die Welt um uns herum zu entwickeln und unser Mitgefühl zu stärken, was uns dazu motivieren kann, aktiv(er) zu werden und positive Veränderungen herbeizuführen.
Die Menschen, die diese Kritik äußern, sind in meinen Augen oft diejenigen, die Achtsamkeit leider falsch vermittelt bekommen haben oder sie als eine weitere Stressbewältigungsmethode oder Selbstoptimierungstaktik ansehen, die bei ihnen vielleicht nicht die gewünschte (und versprochene) Wirkung gezeigt hat.
Achtsamkeit „macht“ man nicht. Man wird achtsam.
Und wenn man achtsam ist, ist das ansteckend. Mit Achtsamkeit können wir nicht nur gut, einfühlsam und fürsorglich zu uns selbst sein. Sie geht von uns aus, sie breitet sich aus wie ein unsichtbares Netz aus Mitgefühl und Liebe und zieht alles mit sich.
Achtsam in der Welt zu sein bedeutet, wählerisch zu sein und aktiv zu entscheiden, welche Nachrichten, Social-Media-Inhalte, Menschen ich wann und wie an mich heranlasse – und welche nicht.
Es bedeutet aber nicht, der Welt zu entfliehen oder sich vor ihr zu verstecken.
Achtsamkeit und Eremitentum können nebeneinander existieren, tun es aber in den meisten Fällen nicht.
Ich bin achtsam, mitten in München. Ich bin achtsam als Coachin, Autorin, Partnerin, Podcasterin, Tochter und Freundin. Mitten im Leben. (Du wirst bei mir keine Räucherstäbchen finden. Ich trage keine bodenlangen Batik-Kleider und höre keine Klangschalenmusik, das nur nebenbei, um ein für alle Mal mit Stereotypen aufzuräumen!).
Achtsamkeit kann helfen, klarer und bewusster auf die Probleme der Welt zu reagieren, anstatt sie zu ignorieren.
Sie schafft ein Gleichgewicht zwischen innerer Arbeit und äußerem Handeln.
Achtsamkeit soll uns nicht von der Welt isolieren, sondern uns stärken, in ihr aktiv zu sein.
Gelebte, ehrliche Achtsamkeit beweist, dass innere Transformation und äußeres Handeln Hand in Hand gehen können. Achtsamkeit kann die Grundlage für ein bewussteres und engagierteres Leben sein.
So nehme ich Achtsamkeit wahr, so (er)lebe ich sie und genau so gebe ich sie in meinem Handeln weiter.
4. Stress durch ständige Präsenz
Für viele Menschen kann die Einladung, im Hier und Jetzt zu sein, eher Unbehagen als Wohlbefinden auslösen, vor allem, wenn sie zum ersten Mal in die Gewässer von Achtsamkeit, Meditation & Co. eintauchen: Ein oft übersehener Aspekt der Achtsamkeitspraxis ist daher auch der Stress, der durch ständige Präsenz entstehen kann.
In unserer schnelllebigen, „tiktoktisierten“ Welt kann der Versuch, ständig im gegenwärtigen Moment zu sein, zusätzlichen Druck erzeugen. Die Erwartung, immer im Moment zu sein und nichts zu verpassen, führt bei vielen Menschen eher zu Stress und Angst, als dass sie diese lindert. Das Ziel, jederzeit aufmerksam und achtsam zu sein, kann sich als unmöglich erweisen und das Gegenteil von Entspannung bewirken.
Erstens: Tief durchatmen.
Zweitens: Es gibt niemanden auf der Welt, der rund um die Uhr achtsam ist. Aber es gibt viele, die merken, wenn sie es nicht sind.
Und das ist völlig in Ordnung. Warum ist das so? Weil wir Menschen sind und keine Roboterprogramme.
Selbstmitgefühl, Nachsicht mit sich selbst, ein Hauch Selbstliebe und auch eine Prise Humor helfen mir immer wieder, wenn ich merke, dass ich in einer bestimmten Situation gar nicht achtsam war und alle Prinzipien über Bord geworfen habe.
Doch das ist das Entscheidende an einem achtsamen Leben:
Sich selbst zu erlauben, auch mal unachtsam zu sein. Denn anders geht es nicht. Achtsamkeit ist ein Prozess, keine Perfektion. Wir erreichen nie eine Endstufe der Achtsamkeit. Deshalb heißt es auch Achtsamkeitspraxis - man übt sich darin.
Und das ist meiner Meinung nach auch das Schöne daran.
Flexibilität, Möglichkeiten zu eröffnen und diese bewusst zu erkennen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Achtsamkeit: keine starren Regeln aufzustellen, sondern die Praxis den eigenen Bedürfnissen und Umständen anzupassen.
Das bedeutet im Alltag: Wenn die Zeit knapp ist und du gerade gefühlt eine Million Dinge zu erledigen hast, musst und kannst du vermutlich auch nicht jeden Tag meditieren. Aber du kannst dir Mikro-Rituale in dein Leben einladen, mit denen du - ganz individuell und natürlich - einfache Momente der Achtsamkeit in dein Leben integrieren kannst.
Für mich ist das zum Beispiel die morgendliche Tasse Kaffee, die ich auf jeden Fall achtsam genieße, egal, wie sehr es um mich herum im metaphorischen Sine stürmt.
(Tipp: Wenn du mehr über Mikro-Rituale erfahren möchtest, empfehle ich dir mein Buch „Raunächte für Anfänger“).
5. Die Rolle digitaler Geräte
Digitale Geräte spielen im Zusammenhang mit Achtsamkeit eine ambivalente Rolle. Einerseits gibt es zahlreiche Apps, Online-Kurse und digitale Angebote, die Achtsamkeit bekannter und zugänglicher machen. Sie ermöglichen es Menschen weltweit, flexibel und ortsunabhängig Achtsamkeit zu praktizieren. Auch ich habe beispielsweise über die App Headspace den Einstieg in eine regelmäßige Meditationspraxis gefunden.
Auf der anderen Seite wird dieser digitale Zugang oft als Stressfalle empfunden. Die ständige Nutzung von Laptops, Smartphones und Social-Media-Plattformen kann das Bewusstsein und die Fähigkeit zur Achtsamkeit beeinträchtigen. Insbesondere die Bildschirmzeit - sei es für berufliche Zwecke, private Nachrichten oder Social Media - kann dazu führen, dass wir uns gestresst und abgelenkt fühlen, anstatt ruhiger und präsenter zu werden.
Ein häufig geäußerter Kritikpunkt an der Achtsamkeitsbewegung ist, dass digitale Angebote zwar den Zugang zur Achtsamkeit erleichtern, gleichzeitig aber auch die Herausforderung darstellen, wirklich achtsam zu bleiben. Die ständige Verfügbarkeit und Erreichbarkeit durch digitale Geräte, insbesondere vor dem Schlafengehen, beeinträchtigt die Schlafqualität, stört die innere Ruhe und kann Ängste und Minderwertigkeitsgefühle verstärken. So wird der Versuch, achtsam zu leben, durch digitale Ablenkungen oft untergraben - ein klarer Widerspruch.
Neben dieser Stressfalle gibt es aber auch ein ethisches Dilemma, das viele Menschen beschäftigt: Die Nutzung digitaler Plattformen und Technologien steht im Konflikt mit den ethischen Prinzipien der Achtsamkeit. Ethik spielt in der Achtsamkeitspraxis eine zentrale Rolle und die Lehre ermutigt dazu, mit Weisheit und Mitgefühl zu handeln.
Die Frage, inwieweit es ethisch vertretbar ist, Unternehmen zu unterstützen, deren Geschäftsmodelle auf permanenter Aufmerksamkeit und Datenauswertung basieren, beschäftigt viele. Social-Media-Plattformen, die oft auf Manipulation durch Algorithmen und das Ausspielen emotional aufgeladener Inhalte ausgelegt sind, stehen im Widerspruch zu den in der Achtsamkeit gelebten Werten wie Klarheit, Bewusstheit und Mitgefühl.
Hier greift der Ansatz der digitalen Achtsamkeit, ein Thema, das mir bekanntlich besonders am Herzen liegt. Es geht nicht darum, digitale Medien zu verteufeln, sondern verantwortungsvoll und bewusst mit ihnen umzugehen. Eine digital Balance – also der gezielte und achtsame Einsatz digitaler Geräte – kann nicht nur helfen, die Kontrolle über Zeit und Wohlbefinden zurückzugewinnen, sondern auch, ethisch fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, welche Plattformen und Angebote man nutzt.
Das bewusste Einplanen von Digital-Detox-Tagen oder -Zeiträumen kann zudem den Geist beruhigen und das „reale“ Leben im Moment stärken. Es schafft Raum, um reflektiert zu entscheiden, welche digitalen Räume und Tools wirklich unterstützen und welche eher belasten.
6. Die Illusion der Perfektion
In der heutigen Zeit, in der soziale Medien unser Leben dominieren, wird Achtsamkeit oft als Teil eines perfekten, sorgenfreien Lebens dargestellt - oder als die fehlende Zutat, um dieses zu erreichen. Ein glückliches, glänzendes, perfektes Instagram-Leben.
Dieses Bild, das viele, vor allem weibliche Influencerinnen auf Instagram, TikTok & Co. Tag für Tag vermitteln, kann gerade bei Achtsamkeitsneulingen zu unrealistischen Erwartungen führen und den Druck erhöhen, ein idealisiertes Bild von Achtsamkeit oder gar ein perfektes Leben zu erreichen.
Ich gebe Entwarnung: Das gibt es nicht.
Achtsamkeit zu praktizieren, bedeutet nicht, immer glücklich und ausgeglichen zu sein. Es geht darum, alle Aspekte des Lebens bewusst zu erleben und realistische Erwartungen zu haben.
Achtsam zu leben, bedeutet auch, in der Welt zu leben und in der Praxis ehrlich zu sein. Es bedeutet daher vor allem auch, „schwierige“ Gefühle zu akzeptieren und anzunehmen.
Und das ist für mich der lohnende Teil der Achtsamkeit: Mit den eigenen Gefühlen „sitzen“ zu lernen. Mit den guten, den schönen, aber auch mit den schlechten und hässlichen.
Denn sie alle gehören uns.
Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, erkennen wir aber, dass wir nicht unsere Gefühle sind, wir haben Gefühle.
Wir dürfen sie erleben, wir können sie beobachten und dann können wir entscheiden, ob und wie wir darauf reagieren.
7. Achtsamkeit und Selbstoptimierung
Wie eingangs erwähnt, kann Achtsamkeit auch als Werkzeug zur Selbstoptimierung missbraucht werden.
In unserer leistungsorientierten Gesellschaft besteht die Gefahr, dass Achtsamkeit zu einem weiteren Punkt auf der To-do-Liste wird, den es zu perfektionieren gilt. Argh, jetzt muss ich auch noch achtsam sein! (Unter uns: Du musst gar nichts).
Diese Haltung kann die ursprüngliche Absicht der Achtsamkeit untergraben und zusätzlichen Stress verursachen.
Wie wäre es, Achtsamkeit als einen sanften, verzeihenden Weg zu Selbstakzeptanz und Selbstliebe zu sehen und nicht als Selbstoptimierung?
Wie wäre es, Achtsamkeit als Filter im Leben zu sehen und nicht als Mantel?
Achtsamkeit ist eine Einladung, im gegenwärtigen Moment zu sein. Genau dort, wo das Leben stattfindet, anstatt ständig nach Verbesserung (in der Zukunft) zu streben.
Sie kann helfen, mehr Pausen in den Hustle-Modus einzubauen, und bei regelmäßiger Praxis auch das Bewusstsein fördern, dass erhöhte Produktivität vielleicht nicht das Ziel ist, das wir erreichen wollen – oder sollten.
Achtsamkeit erlaubt uns, die Dinge in ihrem wahren Licht zu sehen und zu erkennen, was wir wirklich wollen – beruflich und privat. Und das kann auch bedeuten, weniger zu wollen und unser Leben einfacher zu gestalten, dafür aber näher an unseren Werten und Wünschen.
8. Medizinische und psychische Risiken
Obwohl Achtsamkeit viele Vorteile bietet und man leicht annehmen könnte, dass “sanfte” Techniken wie Meditation, Yoga, autogenes Training usw. für jeden geeignet sind, gibt es auch medizinische und psychologische Risiken, die berücksichtigt werden müssen.
Für Menschen mit bestimmten psychischen Störungen wie schweren Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen kann eine intensive Achtsamkeitspraxis belastend sein und unangenehme Emotionen hervorrufen. Das habe ich auch in meinen Trainings gelernt.
Wenn psychische Vorerkrankungen vorliegen, sollten die verschiedenen Achtsamkeitsmethoden nur unter Anleitung von erfahrenen Fachleuten wie Therapeut*innen angewandt werden.
Das Üben wird dann an die individuellen Bedürfnisse angepasst oder auch auf einen späteren Zeitpunkt der Therapie verschoben, wenn sich der psychische Zustand des Patienten oder der Patientin gebessert hat.
9. Wirtschaftliche Interessen und Kommerzialisierung
Ein weiterer Kritikpunkt ist die zunehmende Kommerzialisierung von Achtsamkeit. Einige Marken, Unternehmen, Selbstständige und Influencer*innen haben erkannt, dass Achtsamkeit ein lukrativer Markt ist und bieten teure Online-Kurse, Apps, Retreats, Kleidung, Accessoires und alles Mögliche drum herum an - einfach weil es “in” ist.
Dieser Trend wird oft als „Achtsamkeitswashing“ bezeichnet – der Versuch, mit dem Label "Achtsamkeit" eine positive und ethische Außenwirkung zu erzeugen, ohne die tiefere Bedeutung und Philosophie dahinter wirklich zu leben. Achtsamkeit wird so zu einem reinen Marketinginstrument.
Das kann dazu führen, dass Achtsamkeit selbst zum Produkt wird: Zum Add-on, zum Nice-to-have oder gar zum exklusiven Luxusgut.
Damit entfernt sich der Kern des achtsamen Lebens von seiner Essenz und wird zu etwas, das man haben kann, sollte oder muss.
Achtsamkeit wird oft als Luxusgut wahrgenommen und es entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, dass die Praxis mit einem hohen Aufwand an Zeit, Energie oder Geld verbunden ist.
Damit verbunden kann sogar ein Gefühl der Unzugänglichkeit von Achtsamkeit vermittelt werden. Dass Achtsamkeit nur etwas für wenige ist, für eine exklusive Elite der Persönlichkeitsentwicklung, anstatt eine allgemein zugängliche Philosophie und eine realistische Lebensweise zu sein.
Ich habe in diesem Blog (und im Podcast) schon meine Meinung zu fünfstelligen Coaching-Paketen geäußert, und das kann ich fast eins zu eins auf diverse Achtsamkeitsangebote übertragen.
Alles, was du brauchst, um achtsam zu leben, bist du und die Entscheidung, in die Selbstreflexion zu gehen.
Das ist der erste und wichtigste Schritt auf deiner Achtsamkeitsreise und etwas, das dich immer begleiten wird.
Ob du einen Schritt weiter gehst und dir ein Coaching buchst, weil du vielleicht gerade viele private oder berufliche Herausforderungen zu meistern hast, ob du dir exklusive Meditationskissen und Yogamatten kaufst, ob du Schweige-Retreats im Himalaya buchst, bleibt dir überlassen.
Brauchst du das alles, um deine Achtsamkeitspraxis zu starten? Mitnichten.
Es gibt viele kostenlose und kostengünstige Ressourcen und Gemeinschaftsangebote – online wie offline – die dir anfangs helfen können, Achtsamkeit zu praktizieren. Lokale Gruppen, Volkshochschulen, Podcasts, Newsletter und Bücher bieten großartige Möglichkeiten, soziale Unterstützung und Austausch zu finden und erste Erfahrungen mit der Achtsamkeitspraxis zu sammeln.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass Ethik in der buddhistischen Tradition eine zentrale Rolle im Edlen Achtfachen Pfad spielt. In den ursprünglichen Lehren ist Achtsamkeit nicht nur ein Weg der Selbstreflexion, sondern Teil eines größeren ethischen Rahmens, der Weisheit, Mitgefühl und verantwortliches Handeln umfasst.
In der Achtsamkeitspraxis geht es nicht um das Befolgen starrer Regeln, sondern um das situative Treffen ethischer Entscheidungen - oft auch als Situationsethik bezeichnet. Das bedeutet, Achtsamkeit als Leitfaden zu nutzen, um in jedem Moment zu reflektieren, wie man auf die Umstände und die Menschen um sich herum reagiert, ohne dabei die ethischen Grundprinzipien aus den Augen zu verlieren.
Fazit
Achtsamkeit ist ein großartiges Werkzeug, das unser Leben bewusster und erfüllter macht – aber auch sie hat ihre Ecken und Kanten. Kritikpunkte wie kulturelle Aneignung, Kommerzialisierung oder der Vorwurf, es handele sich um eine egoistische Praxis, dürfen nicht ignoriert werden. Statt Achtsamkeit deshalb abzulehnen, hilft es, einen differenzierten Blick zu bewahren. Wie bei allem im Leben geht es darum, die richtige Balance zu finden: Zwischen Selbstfürsorge und Mitgefühl, zwischen innerer Arbeit und äußerem Engagement. Achtsamkeit ist kein Luxusprodukt, kein Egotrip, keine perfekte Lösung - sie ist eine Einladung, die Dinge klarer zu sehen und bewusster zu leben. Und ja, das darf auch mal unperfekt sein.
Meine Buchempfehlungen
1. "Achtsamkeit für Anfänger" von Jon Kabat-Zinn: Ein Klassiker, der grundlegende Prinzipien der Achtsamkeit und Meditation vermittelt.
2. "Jetzt! Die Kraft der Gegenwart" von Eckhart Tolle: Ein tiefgründiges Buch über die Bedeutung des gegenwärtigen Moments und wie man ihn bewusst erleben kann.
3. "Mit dem Herzen eines Buddha" von Tara Brach: Ein Buch, das sich mit der Akzeptanz und Selbstliebe als Schlüssel zur Achtsamkeit auseinandersetzt.
4. „Das Wunder der Achtsamkeit“ von Thich Nhat Hanh: Eine einfache und kraftvolle Einführung in die buddhistische Achtsamkeitspraxis, die auf tiefer Weisheit und spiritueller Tradition beruht.
5. "Mindfulness in Plain English" von Bhante Henepola Gunaratana: Ein Klassiker, der die buddhistische Achtsamkeitspraxis klar und unmissverständlich erklärt und sich stark an den traditionellen Wurzeln orientiert.
6. "The Heart of Buddhist Meditation" von Nyanaponika Thera: Ein Buch, das die Essenz der Vipassana-Meditation vermittelt und tief in die buddhistischen Ursprünge der Achtsamkeit eintaucht.
7. „Mindfulness: A Practical Guide to Finding Peace in a Frantic World von Mark Williams und Danny Penman ist ein zugängliches Buch, das wissenschaftlich fundierte Achtsamkeitstechniken vorstellt, um Stress zu reduzieren und inneren Frieden zu finden. Es bietet praktische Übungen und begleitet den Leser Schritt für Schritt auf dem Weg zu mehr Achtsamkeit im Alltag.
8. "In the Buddha's Words: An Anthology of Discourses from the Pali Canon" von Bhikkhu Bodhi. Eine Sammlung der ursprünglichen Lehren des Buddha, die sich mit den Grundlagen der Achtsamkeit und Meditation beschäftigen.
9. "The Path of Serenity and Insight: An Explanation of the Buddhist Jhanas" von Henepola Gunaratana. Eine tiefgehende Erörterung der Meditationspraxis der Jhanas (Zustände tiefer Konzentration) im buddhistischen Kontext, eng verbunden mit Achtsamkeit.
10. “Achtsamkeit: Ein Weg, der Weisheit und Liebe verbindet" von Joseph Goldstein. Joseph Goldstein ist ein erfahrener Meditationslehrer und Mitbegründer des Insight Meditation Society. In diesem Buch bringt er die traditionellen Lehren der Achtsamkeit in einer einfachen und klaren Sprache näher.
11. "Stille finden in einer lauten Welt: Mein Weg der Achtsamkeit“ von Jack Kornfield. Der Autor verbindet buddhistische Weisheit mit westlichen psychologischen Erkenntnissen. Seine Schriften sind einfach zu verstehen und voller praktischer Übungen, die auf den kulturellen Ursprüngen der Achtsamkeit basieren.
12. "Lovingkindness: The Revolutionary Art of Happiness" von Sharon Salzberg. Sharon Salzberg ist eine der Pionierinnen der Achtsamkeit im Westen und bleibt dennoch tief in den buddhistischen Traditionen verwurzelt. Dieses Buch zeigt, wie Achtsamkeit mit Mitgefühl kombiniert werden kann.
13. "The Mind Illuminated: A Complete Meditation Guide Integrating Buddhist Wisdom and Brain Science" von Culadasa (John Yates): Ein zugänglicher und systematischer Leitfaden zur Meditation, der sowohl die buddhistische Tradition als auch moderne wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt.
14. „Das Gehirn eines Buddha: Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit“ von Rick Hanson. Dieses Buch bietet eine Brücke zwischen moderner Neurowissenschaft und den traditionellen buddhistischen Lehren über Achtsamkeit und Meditation.
15. "Insight Meditation: The Practice of Freedom" von Joseph Goldstein. Ein weiteres Buch von Joseph Goldstein, das sich auf Vipassana (Einsichtsmeditation) konzentriert. Es bleibt den buddhistischen Wurzeln treu, ist aber leicht verständlich und zugänglich.
16. "Der Pfad des friedvollen Kriegers" von Dan Millman. Eine spirituelle Geschichte, die Elemente der Achtsamkeit und östlichen Weisheit enthält und diese auf eine zugängliche und erzählerische Weise vermittelt.
17. "What the Buddha taught" von Walpola Rahula. Dieses Buch bietet eine umfassende und einfache Einführung in die grundlegenden Lehren des Buddha, inklusive der Achtsamkeit. Es wird oft als eines der besten Bücher für Anfänger im Bereich der buddhistischen Lehren empfohlen.