Wer bist du, wenn keiner zuschaut? Über den schönen Schein, gesunde Selbstdarstellung und die Kraft deines „wahren Ichs“
Dies ist ein Gastartikel von Dr. Susanne Scheer. Susanne ist Karriere- und Führungscoach und begleitet Menschen, die ihr (Berufs-) Leben bewusst gestalten und sich selbst dabei treu bleiben möchten. Dabei bringt sie ihre 20-jährige Berufserfahrung aus Wirtschaft und Wissenschaft ebenso mit ein wie ihre Intuition und ihre Expertise rund um Personal- und Persönlichkeitsentwicklung. Susanne glaubt daran, dass wir mit Klarheit, Mut und Selbstkenntnis unsere Welt noch besser und menschlicher gestalten können. Mit dem Blick auf das, was wirklich zählt.
„Schaut alle her: Ich bin toll.
Mein Leben ist super.
Job, Partnerschaft, Familie, Aussehen, Freunde, Hobbies. ALLES MEGA!!!
Und ich bekomme alles hin – wenn ich nur will.
Du doch sicher auch, oder?“
Fällst du auch immer wieder auf solches Blendwerk herein?
Also ich ja, immer wieder mal! Obwohl ich es doch eigentlich besser wissen könnte…
Vielleicht tue ich das aus dem Wunsch heraus, dass alles wirklich ganz einfach sein könnte im Leben. Verknüpft mit Hoffnungen und Wunschgedanken wie:
WENN ich reich und berühmt bin, DANN werde ich mehr gesehen – und geliebt.
WENN die anderen das alle so leicht hinbekommen, DANN muss es ja machbar sein.
WENN meine Nase dem Schönheitsideal entspricht, DANN wird alles viel leichter sein.
WENN ich die teure Handtasche gekauft habe, DANN finde ich echte Freunde.
Ach, es wäre auch so schön!
Und zugleich: Mit meiner Erfahrung als Coach glaube ich nicht mehr daran, dass Menschen, die sich großartig inszenieren müssen, wirklich selbstsichere Persönlichkeiten sind. Über diese Entdeckung bin ich sehr dankbar! Mehr dazu später…
Das Präsentations-ICH: Wie muss ich sein, um zu gefallen?
Um zu gefallen, sollte ich mich am besten makellos präsentieren – ein bisschen so wie in Werbespots.
Z.B.: Auf Fotos nur die „Schokoladenseite“ zeigen. Und natürlich alle mit KI nachoptimieren, um dem Schönheitsideal zu entsprechen oder…
… nur das Beste vom Urlaub zu erzählen! Auch wenn der Magen-Darm-Virus und die nahe Autobahn alles andere als toll waren. Das passt ja nicht ins Bild…
Und ich sollte wissen, welche Erwartungen ich erfüllen muss. Was ist gerade „in“? Welchen Idealen, Rollenbildern oder äußeren Erwartungen folge ich (bewusst oder unbewusst)?
Z.B.: „Ich mache das so, weil es alle machen“ – oder: „Weil man das als XY so machen muss.“
(„XY“ kann je nach „Schablone“ alles sein: angesagter Teenie, fürsorglicher Elternteil, Regime-Gegner, Lebenskünstler, erfolgreicher Geschäftsführer…)
Die Grundprinzipen der vorteilhaften Selbstdarstellung existieren schon sehr lange – vermutlich so lange, wie es Menschen gibt. Hast du dir zum Beispiel schon mal die mittelalterlichen Porträts von Adelsfamilien genauer angeschaut? Und selbst in der Tierwelt zeigt sich das Prinzip etwa bei aufwendigen Balzritualen…😉
Neu ist: Die Selbstpräsentation wird heutzutage durch sozialen Medien verstärkt und einer viel breiteren Masse zugänglich gemacht.
Vor 20 Jahren konnte ich noch nicht auf Knopfdruck 1000 Leuten gleichzeitig von meinem super Urlaub erzählen – inklusive Fotos…. Und die technischen Möglichkeiten laden (immer mehr) dazu ein, sich nur noch von der allerbesten Seite zu zeigen.
Die Logik hinter der Selbstdarstellung
Von anderen gesehen und gemocht werden zu wollen, ist für uns soziale Wesen ein völlig logisches Verhalten: Wir brauchen Anerkennung und Zuwendung - von Geburt an. Als Baby um zu überleben. Und später, um in der Gruppe und Gesellschaft auch Schutz und Struktur zu finden.
Wofür ist Selbstdarstellung nützlich – ganz wertfrei betrachtet? Für eine ganze Menge:
Orientierung (die „Spielregeln“ kennen und sich darin zurechtfinden)
Zugehörigkeit (zu einer Gruppe, Gesellschaft oder Firma)
Anerkennung (es fühlt sich vermutlich gut an, sich z.B. passend zum „Schönheitsideal“ darzustellen und positive Rückmeldungen zu erhalten)
Einflussnahme (z.B. die Worte und Produkte einer Influencerin)
Selbstschutz (lieber den schönen Schein wahren anstatt sich verletzlich zu zeigen)
Auch die Gesellschaft würde ohne eine gewisse Anpassung und ein Sich-Aufeinander-Einlassen gar nicht funktionieren.
Den schönen Schein wahren - was für ein Kraftakt!
Doch einige - ganz menschliche – Facetten, Verhaltensweisen und Gefühle werden auf der großen Bühne gar nicht gerne gesehen, z.B.:
Fehler, Schwächen, eigene Unzulänglichkeiten
Sorgen, Ängste, Unsicherheiten
„Aufmüpfiges Aus-der-Reihe-Tanzen“ – denn das könnte gefährlich werden für das bestehende System
Immer wieder bin ich überrascht, wieviel Energie manch einer in die Selbstinszenierung steckt. Den schönen Schein wahrt - um jeden Preis. Wie unsicher der Mensch dahinter oft ist!
Lieber inszenieren – um ja nicht „aufzufliegen“. Bis hin zum Verlust der eigenen Identität. Oder unbedingt von sich ablenken. Indem ich anderen lautstark sage, was sie falsch machen.
Was für ein Druck. Was für ein Stress. Was für ein Umgangston (mit sich selbst oder anderen).
Abseits der Bühne: Das wahre Ich
Etwas verlieren Menschen manchmal bei zu viel Selbstinszenierung: Sich selbst. Ihr „wahres ICH“.
Wer bist du, wenn niemand zuschaut? – Offline. Ungeschminkt. Ganz für dich.
Die Logik des „wahren ICHs“ funktioniert anders als beim Präsentations-ICH. Bei ihr geht es um SEIN statt Schein:
Was macht dich aus - im Kern? Was ist dir wirklich wichtig? Was berührt dich?
Denn: Dich gibt es nur einmal! Wie lässt es sich da aus Vergleichen mit anderen oder äußeren Erwartungen schließen, was wirklich zu dir passt?
Die Dosis macht das Gift…
Was macht für dich ein gesundes Verhältnis zwischen deinem Präsentations-Ich und deinem „wahren Ich“ aus?
Ein bisschen „Präsentations-Ich“ gehört zum Leben und Wahrgenommen werden unbedingt dazu. Es sollte nur das „wahre Ich“ nicht verdrängen! Und es darf keine zu großen Unterschiede zwischen beiden geben. Denn das man schnell krank – und unsozial!
Ein Missverhältnis führt nicht selten zu Burnout, Rückenschmerzen, aggressivem Verhalten, Überanpassung, Narzissmus, Selbstabwertung, Hass auf andere, Magenweh…
Selbst-bewusste Menschen brauchen wenig(er) Inszenierung
Was ich verstanden habe: Wenn ein Mensch wirklich selbst-bewusst ist, verwendet er kaum noch Energie auf seine Selbstinszenierung. Oder für Angriffe auf andere, um sich (kurzzeitig) selbst besser zu fühlen. Denn: Er hat das gar nicht (mehr) nötig!
Echtes Leben geht viel leiser. Und Präsenz auch.
Selbst-bewusste Menschen nehmen sich (mehr) an - mit allem, was zu ihnen gehört. Und gestalten ihr Leben so, dass es sich (möglichst) stimmig für sie anfühlt. Ganz unabhängig von ihren „Likes“ auf Social Media.
Und sie entscheiden, was sie wann, wo und wie von sich (in den sozialen Medien) zeigen möchten.
Der erste Schritt: Mit sich in Kontakt bleiben
Du möchtest dich gern noch besser kennenlernen – und dein gutes Verhältnis zwischen Bühnen-Ich und „wahrem Ich“ erkunden?
Für den ersten Schritt brauchst es gar nicht viel: Etwas Zeit in einem geschützten Raum. Einen gütigen Blick auf dich selbst. Etwas Geduld und Mut, dir in allen Facetten zu begegnen.
Unterstützend könnte sein, um mit dir in Kontakt zu kommen:
Bewegung & Gewahrsein, z.B. mit Yoga, Chi Gong, Meditieren, Zeit für dich alleine, Spaziergänge in der Natur,…
Deine Energie & Aufmerksamkeit gut einteilen – und immer wieder nachjustieren.
Verabredungen mit dir selbst – um dich noch besser kennenzulernen (z.B. deine Muster, Erwartungen, Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Ideen, Träume, …). Hier findest du eine kurze Video-Anleitung und drei kostenfreie Tools für deine Ich-Dates.
Manche Menschen nutzen gern den geschützten Raum im Coaching, um sich zu reflektieren und zu sortieren. Genauer zu betrachten, was sie wirklich denken und fühlen – jenseits von Idealen, Blendwerk und sozialen Erwartungen. Mit einem neutralen Gegenüber. Um dann konkret an den eigenen Themen, Wünschen und Bedürfnissen zu arbeiten.
Wie unwichtig dann (manchmal) das ganze Blendwerk und der schöne Schein werden dürfen. Wie lebendig du selbst. Und wie wertschätzend die Begegnung!
Ach übrigens: Bei mir ist doch nicht immer alles toll... 😊
Ich lebe ja auch nicht in einem Hochglanzkatalog. - Zum Glück!
Ich lebe mein Leben mit allem, was dazu gehört: Guten, mittleren und schlechten Tage. Leichten, mittleren und schwierigen Phasen mit mir, im Miteinander auf der Arbeit oder Zuhause. Eine Mischung aus Freude, Sorgen, schönen Momenten, Streit, Festhalten, Loslassen, Fehler machen und dazu stehen, neues Ausprobieren,...
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Herzliche Grüße & alles Gute
Susanne